Colonia Dignidad: Wer war Paul Schäfer?

Über den Sektengründer Paul Schäfer, der im Jahr 1921 in Bonn geboren war und 2010 im Gefängnis in Chile verstarb, ist bekannt, dass er ein pädophiler Sadist gewesen ist.
Beinahe 45 Jahrelang hatte er die chilenische Kommune “Colonia Dignidad“ mit Unterstützung der Armee und mit harter Hand regiert. Mehr als 300 Pilgernde aus Europa sowie Gegner des chilenischen Regimes Pinochets wurden eingepfercht, gefangen gehalten, missbraucht, vergewaltigt, mit Elektroschocks gefoltert, geschlagen und ermordet. Fast jeden Abend, so erzählen ehemalige sogenannte “Colonen“, hat er einen Jungen zu sich ins Haus kommen lassen, um ihn sexuell zu missbrauchen.

Schäfer hat seine pädophile Neigung bereits in Deutschland vor seiner Abreise nach Chile ausgelebt. In seinem Wohnort bei Köln nämlich war er Jugendbetreuer, Erzieher und Heimleiter.
Mitte der fünfziger Jahre kaufte er ein eigenes Anwesen in der Nähe von Bonn, das „Haus Heide“, und gründete die „Private Sociale Mission“. Das „Haus Heide“ der „Privaten Socialen Mission“ diente nach außen hin ganz wohltätigen Zwecken: der Fürsorge für Kriegswaisen und schwer erziehbare Kinder. Als Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern per Haftbefehl gesucht wurde, wanderte er im Jahr 1963 nach Chile aus.

Die Colonia Dignidad (zu Deutsch: Kolonie der Würde) wurde längst in “Villa Baviera“ (zu Deutsch: Bayrisches Dorf) umbenannt. Noch heute leben dort ehemalige Sektenmitglieder, allerdings in Freiheit. Und mit der Sekte Colonia Dignidad hat dieses Gelände nichts mehr gemein, es dient als Ausflugsziel für Touristen.

In seiner Sekte ließ Paul Schäfer Mädchen von Jungen und Frauen von Männern trennen und Kinder von ihren Eltern. „Keine Mädchen!“, predigte er. „Kein Kino! Keine Selbstbefriedigung! Alles das ist vom Teufel!“
Ein ehemaliges Sektenopfer, heute im Rentenalter, berichtet der Fernsehsendung fakt:

»Auf den Kopf bekam man ein Tuch gelegt und nasse Watte in die Ohren gesteckt, und so sollte man schlafen. Man war ständig nackt und man durfte sich nicht umdrehen«.

Außerdem sei man so nachts aufgeweckt, wenn jemand durch eine Behandlung mit einem Elektroschocker aufgeweckt wurde.
Aufgrund der Länge dieser Reportage von 45 Minuten verlinke ich diese Reportage am Ende.

Über die Sekte Colonia Dignidad gibt es im Internet jede Menge Artikel und Videomaterial. Würde man Zeitzeuginnen und Zeitzeugen konkret fragen, welche Art von Mensch Paul Schäfer denn nun war, bekäme man eventuell die Antwort: „Ein pädophiler Sadist“.
Als Gewalt- und Sexualtäter wird man nicht geboren, man wird dazu gemacht. Möchte man wissen, welche Erlebnisse Paul Schäfer zum pädophilen Sadisten gemacht haben, muss man nicht nur sein Leben kennen, sondern auch wissen, wie er selbst diese Erlebnisse und Erfahrungen empfunden hat. Es gibt durchaus Menschen, die während Kindheit und/oder Jugend exzessive Gewalt erfahren mussten, aber selbst nie zum Täter geworden sind, weil sie zur (Selbst-)Reflexion bereit sind und nachempfinden können, dass dies auch für andere Menschen nicht gut ist.

Wikipedia ist zu entnehmen, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg als Hilfsarbeiter auf Jahrmärkten arbeitete, ehe er sowohl in evangelischen als auch in katholischen Kircheneinrichtungen Anstellungen als Jugendbetreuer und später als Leiter Anstellungen fand. Dort zeigte er nach Aussagen von Augenzeuginnen und Augenzeigen erhebliches Interesse an sadistischen Praktiken als Bestrafungen für Regelverstöße. Um 1949/50 folgte die Entlassungen aus den Einrichtungen, weil die Gerüchteküche brodelte, dass er Kinder und Jugendliche misshandelte und sexuell missbrauchte, so entging er einem Strafverfahren. Im Anschluss machte er sich als Laienprediger selbstständig.

Schäfer war durchaus ein Geschäftsmann. Er pachtete Lebensmittel- und Tabakwarengeschäfte. Mithilfe staatlicher Förderung ließ er in Siegburg bei Köln die Gemeinde “Private Sociale Mission e.V.“ bauen. Nach außen hin wirkte diese Gemeinde wie eine friedliebende Gemeinschaft. Doch auch hier wieder Doppelmoral: während es sich Paul Schäfer gutgehen ließ, verlangte er von seinen Gemeindemitgliedern Zurückhaltung und, dass sie für ihn hart und unentgeltlich zu arbeiten hatten. Mit Einführung des Beichtzwangs verlangte er das Teilen intimster Gedanken an ihn. Und während er Keuschheit verlangte, verging er sich an Kindern, und zwar ausschließlich an Jungen.

Als im Jahr 1961 zwei Fälle von vergewaltigten Jungen bekannt wurden und er per Haftbefehl gesucht wurde, floh er umgehend nach Chile. Die Zeugen der Anklage, etwa 150 Heimkinder wurden in einer Nacht- und Nebelaktion nach Chile gebracht. In den darauffolgenden Monaten folgten ihm weitere aus mehreren Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Zögernden und Ängstlichen drohte er mit einer sowjetischen Invasion nie gesehenen Ausmaßes.

Bis hierhin ist bestätigt, dass Paul Schäfer bereits in jungen Jahren großes Interesse daran hatte, Menschen zu quälen, sie auszubeuten und auszunutzen. Doch es bleiben Fragen offen. Aufgrund seiner pädophilen Neigungen zu Jungen ist nicht bekannt, dass Paul Schäfer jemals Kinder gezeugt hatte. Lediglich eine Adoptivtochter ist bekannt.

 

Im Januar des Jahres 2023 habe ich einen Internetartikel der ARD entdeckt, in welchem Zeitzeugen der “Colonia Dignidad“ berichten (am Ende verlinkt):

– Als 11-jähriges Mädchen kam Edeltraud Bohnau gemeinsam mit ihren Eltern aus Deutschland zu Paul Schäfer in die “Colonie der Würde“ nach Chile

– Wolfgang Kneese, geboren 1945, kam bereits als Kind zu Paul Schäfer ins Jugendheim der „Privaten Socialen Mission“ in Heide bei Siegburg

– Willi Malessa, geboren, kam im Alter von zehn Jahren in das Jugendheim der „Privaten Socialen Mission“ in Heide bei Siegburg

– Esther Müller, 1957 geboren, war fünf Jahre alt, als sich ihre Eltern entschlossen, 1962 nach Chile auszuwandern

– Günther Schaffrik, im Jahr 1960 geboren, kam im Alter von zwei Jahren aus Deutschland in die Colonia Dignidad

– Kurt Schellenkamp, geboren im Jahr 1927 (gest. im Jahr 2017) war 18 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging

– Erika Tymm, geboren 1959, war zwei Jahre alt, als sie 1962 mit ihren Eltern aus Deutschland nach Chile auswanderte

 

Jede einzelne dieser Zeitzeugengeschichten muss der Öffentlichkeit erzählt werden, damit nicht nur die Taten, sondern auch die Anfänge von jeglicher Form des Missbrauchs – ob nun geistig, emotional, körperlich oder sexuell – rechtzeitig erkannt werden können und entsprechend interveniert werden kann. Jede „Geschichte“ einer kriminellen Vereinigung, einer Sekte, eines Missbrauchskomplexes ist erst vollständig, wenn alle Beteiligten ihre Version erzählt haben.
Um das Täterprofil Paul Schäfer jedoch vervollständigen zu können, bräuchte man sein Geständnis und seine Aussage, wer oder was ihn letztlich zum Täter gemacht hatte. Um dies beantworten zu können, benötigt man weitere Fragen:

– Wie hatte Paul Schäfer seine Kindheit und seine Jugend verbracht, und wie empfunden?

– Wie war das Verhältnis zwischen Paul Schäfer und seinen Eltern?

– Und wie das zwischen ihm und seinen Brüdern?

– Wie haben seine beiden Brüder ihre Kindheit und Jugend wahrgenommen?

– Wurde Paul Schäfer möglicherweise selbst körperlich misshandelt und sexuell missbraucht?

– Oder wurde er von den Eltern verwöhnt von allem Negativen ferngehalten?

– Welchen Stellenwert hatte Sexualität in seiner Familie, wie wurde – falls überhaupt – darüber geredet?

– Ab wann hatte er seine eigene Sexualität entdeckt?

– Ab wann hatte er seine pädophile Neigung entdeckt?

– Ab wann bemerkte er, dass er sich ausschließlich zu Jungen hingezogen fühle?

– War der junge Paul Schäfer überhaupt in der Lage, Empathie zu empfinden?

Während meiner Internetrecherchen habe ich außerdem herausgefunden, dass im Jahr 2017 in Troisdorf, wo die Leidensgeschichte vieler seiner Opfer begann, ein Aufarbeitungsabend mit fünf Zeitzeugen stattgefunden hat, man hat die Arbeitsgruppe „Geschichte der Evangelischen in Troisdorf“ gegründet.

Anfang Februar hat mir Herr Pfarrer Ingo Zöllich nach meiner Anfrage geantwortet und mir Bilder aus der Zeit Schäfers in Troisdorf und einen Artikel per PDF zugesandt, welchen er und Frau Heike Groß gemeinsam recherchiert und im März 2018 im Troisdorfer Gemeindebrief „kompass“ veröffentlicht. Für den Artikel im Gemeindebrief haben Herr Zöllich und Frau Groß in alle Richtungen und in sämtlichen Institutionen recherchiert, vom Gemeindeamt, im Personalschrank des Archivs, beim Kirchenkreis in Siegburg und im Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland. Überall vergeblich.
Wie ich von Herrn Zöllich telefonisch erfahren habe, hatte Paul Schäfer seine Mutter öffentlich denunziert, einer seiner Brüder, als Rowdie bekannt, war wohl ein Vorbild für ihn.

»Als wir im Archiv zur Gemeindegeschichte in der Nazi-Zeit forschten…«, so Zöllich »…,stießen wir auf eine Kladde der evangelischen Jugend, in der die Jugendgruppenleiter von ihren Aktivitäten berichteten. Darin fanden wir dann doch noch eine schriftliche Quelle von Paul Schäfer. Am Pfingstmontag, dem 26.5.1947, schrieb er selbst über die zurückliegenden zehn Jahre, über die Einschränkungen durch die Hitler-Jugend, über«

„Trauer, Elend, Verwüstung, Tod, Verzweiflung und Hungersnot des 6jährigen Krieges“.

»Im Sommer 1950 radelten drei Troisdorfer Jugendgruppenleiter nach Gartow, um Schäfer zu besuchen. Dort erlebten sie, wie Schäfer die Jugend zu begeistern verstand, wurden aber auch Zeugen beginnender Sektiererei. Der Gärtner des Anwesens, auf dem sich das Altersheim befand, wollte nicht, dass sein Sohn an Schäfers Veranstaltungen teilnahm. Schäfer drängte den Sohn jedoch dazu. Darüber kam es zum Streit mit dem Pastor. Der Junge müsse Vater und Mutter ehren, meinte der Pastor gemäß dem vierten der Zehn Gebote, während Schäfer Petrus zitierte::«

„„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“.

Als jüngster von drei Brüdern wurde Paul Schäfer am 4.12.1921 in Bonn geboren und wuchs zunächst in Spich auf. 1932 wurden die Eltern geschieden. 1933 heiratete die Mutter erneut. Die Familie lebte nun in der Frankfurter Straße und später in der Wilhelmstraße, in unmittelbarer Nähe zu Kirche und Gemeindehaus. Paul war ein schlechter Schüler. In der Evangelischen Volksschule blieb er zweimal sitzen; 1936 wurde er nach der 8. Klasse auf dem Stand der 6. Klasse entlassen. Nach dem Krieg blieb er weitgehend arbeitslos und hatte keinen Wohnsitzeintrag, verbrachte aber immer wieder längere Zeiten in der Wohnung von Mutter und Stiefvater.

 

Mögliches Täterprofil

Ohne Zweifel muss es mindestens eine Situation in Paul Schäfers Leben gegeben haben, die ihn nachhaltig geprägt hat. Wir rechnen nach: im Jahr 1921 geboren, im Jahr 1933 heiratete die Mutter erneut. Laut der Wikipedia-Eintragung war Paul Schäfer ein Frauenhasser, also würde diese Vermutung passen. In diesen Zeitraum passen würde auch, dass er im Jahr 1936 als 14-jähriger mit dem Wissensstand eines Sechstklässlers aus der Aus der Volksschule (Hauptschule gab es zu dieser Zeit noch nicht) entlassen wurde.

Weshalb seine beiden Brüder nicht zu Pädokriminellen wurden? Ein Grund dafür könnte gewesen sein, dass sie älter waren als Paul. Ein anderer, und sicher bedeutsamer Grund, war deren individueller Charakter. Jeder Mensch empfindet individuell.

Offensichtlich war Paul Schäfer vielleicht körperlich nicht stark, aber wusste Worte als Waffe einzusetzen, war also eloquent, wodurch es ihm gelang, sämtliche (Mit-)Menschen für seine Zwecke zu manipulieren: nämlich, dass er sie mit Worten bearbeitete, damit sie sich ihm hingaben, damit er seine sadistischen und pädophilen Neigungen ausleben konnte. Zu den Personenkreisen, die er offenbar manipulierte, zählten Kinder, Eltern und studierte Theologen sowie Militärs und Politiker in Chile. Und die blumige Sprache der Gebetsbücher war für ihn offenbar ebenfalls ein Mittel zum Zweck. Typische Eigenschaften eines Psychopathen.

Im Gegensatz zu Soziopathen sind Psychopathen in der Lage, wie ein wildes Tier die Schwächen ihrer Opfer zu erkennen und diese für sich zu nutzen. Leider gab es im Jahr 1933 keine Aufarbeitungskliniken, sondern am 31. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt.
Übrigens galt eine m Nazi-Reich eine geschiedene Frau als “undeutsch“, das durfte nicht mal Joseph Goebbels. Möglicherweise hatte seine Mutter auch daran zu knabbern, und folglich auch Paul Schäfer.

Paul Schäfer

Quellangaben:

Artikel über Paul Schäfer in Wikipedia

Artikel über Paul Schäfer in der Seite der ARD

Artikel, den Herr Zöllich mir gesandt hat: Artikel Schäfer final

Buch „Der Fall Colonia Dignidad“ von Jan Stehle – im transcript-Verlag

Youtube-Doku „Colonia Dignidad – Eine Deutsche Sekte in Chile“

Zeitzeugen, die weitere Auskünfte zu Schäfers Wirken in Troisdorf geben möchten, können sich gerne bei Heike Groß im Gemeindeamt (Tel. 97 90 94 -0) oder bei Pfarrer Zöllich (Tel. 97 29 57) melden. Für Opfer von sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext hat die Evangelische Kirche im Rheinland zudem eine unabhängige und vertrauliche Ansprechstelle eingerichtet: Evangelische Hauptstelle für Familien- und Lebensberatung, Frau Claudia Paul, Graf-Recke-Straße 209a, 40237 Düsseldorf, Telefon 0211 / 36 10 -312 oder -300, E-Mail claudia.paul@ekir.de.

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ZW-Krimi: Einer von uns – Kapitel 3

Im Büro verschaffte er sich zu allererst Übersicht über Tobias Mohr. Er wunderte sich, dass er sich an diesen Namen nicht erinnerte, denn Mohr wohnte im selben Haus wie Jana und Michael Lauterbach, nur eine Etage darüber.

Tobias Mohr war 30 Jahre alt, von Sabine Mohr geschieden, und saß bereits seit seiner Jugendzeit wegen mehrerer Raub-, Drogen-, und Verstöße gegen das Waffengesetz im Gefängnis. Sexualdelikte waren nicht registriert. Er ging aufs Gymnasium, hatte gute Noten, schloss mit Abitur ab. Eine Lehre begann er nie, sondern hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Zeugen werden später von einem glücklichen Familienleben sprechen, seine Eltern waren wohlhabend. Hinter der Fassade sah es allerdings ganz anders aus: Mohr wurde von Kind auf an getrimmt, wie sein Vater Chemie zu studieren, um eines Tages ebenfalls Leiter eines Chemie-Konzerns zu werden. Während er vom Vater quasi genötigt wurde, wurde er von seiner Mutter verwöhnt, er hatte also zwei extreme Parallelen kennengelernt. Hin- und hergeschoben und geprägt bemühte er sich, nach außen hin ein normales Familienleben zu führen: Er lernte Sabine kennen, die bereits in der Langentalstraße wohnte. Durch sie fühlte er sich erstmals ernst genommen, er zog zu ihr und die beiden heirateten. Jedoch schaffte er es nie, der Parallelwelt zu entfliehen. Er hatte von früh auf gelernt, von früh auf Menschen für sich zu gewinnen und für eigene Zwecke zu benutzen. So führte er über viele Jahre ein Doppelleben, in das er Sabine einbeziehen wollte. Das wollte sie allerdings nicht, und sie ließ sich nach nur zwei Jahren wieder scheiden.

Dann wurden ihm das pathologische Gutachten über die Tote und das Blutuntersuchungsergebnis von Lauterbach eingereicht. Bei der Frau wurde das Sperma von mehreren Männern gefunden, es scheint also entweder eine Massenvergewaltigung gegeben zu haben oder zumindest einen Dreier – ob mit ihrer Einwilligung oder nicht, musste noch geprüft werden. Hämatome wurden an ihrem Körper jedenfalls nicht gefunden. Anschließend wurde sie mit einem Seil stranguliert. Das Blutbild von Lauterbach verriet, dass er die Tage bis zur Festnahme täglich Cannabis und Kokain konsumiert hatte, außerdem war eine der bei der Getöteten gefundenen Spermaproben von ihm.

Als das Büro seines hiesigen Vorgesetzten Stoll betrat, um den Durchsuchungsbeschluss entgegen zu nehmen, wunderte er sich, denn auch Schrader war zugegen.
»Sie hier?«
Stoll zuckte lächelnd mit den Schultern. Nach einem gegenseitigen »Guten Morgen«, bat er Stoll um einen weiteren Durchsuchungsbeschluss. Stoll lehnte aus Mangel an Beweisen ab. Dann wurde das gesamte Ermittlerteam zusammengetrommelt. Auch die Kollegen wunderten sich über Schraders` Anwesenheit.
»Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen…«, begann Sie zu reden, sie schaute auch Feisel an »…, zunächst möchte ich verkünden, dass ich von heute an die Trauer nur noch auf mein Privatleben beschränken werde, ebenso die psychologische Behandlung. Medikamente nehme ich keine mehr, und ich bin ab heute wieder im Dienst.«
Tosender Beifall von allen.
Dann sprach sie weiter: »Wir haben heute einen wichtigen Einsatz vor uns, es geht um die Tötung unseres lieben Kollegen Steiner, dessen Beerdigung übrigens morgen in Ixheim stattfinden wird. Außerdem ermitteln wir wegen Tötung und Vergewaltigung an Frau Sabine Mohr.«
Feisel mischte sich ein. »Entschuldigung? Mohr? Frau Kollegin, ich übernehme. Noch ist es mein Fall. Also. Ich hab` inzwischen herausgefunden (er hielt die Akte in die Höhe), dass in- und auf der getöteten Mohr mehrere Spermaspuren gefunden wurden, eine davon ist von unserem Verdächtigten Lauterbach.«
Im Raum herrschte Totenstille.
»Außerdem habe ich gestern erfahren…,« (Er sah Schrader an) »…,dass der Ex-Ehegatte von Frau Mohr über der Wohnung der Lauterbachs wohnt, was auch im Computer nachzulesen ist. Herr Mohr ist einschlägig wegen mehrerer Raub- und Drogendelikten und Verstößen gegen das Waffengesetz vorbestraft. Die Einschusslöcher in der Hauswand des Hauses, in der Frau Mohr gewohnt hat, zeigen an, dass im Haus, in dem Mohr und Lauterbach wohnen, von oben aus geschossen wurde. Also jemand, der entweder im zweiten und dritten Stockwerk, und dort links oder rechts, gewohnt hat. Natürlich vermuten wir alle, wir brauchen aber Beweise. Und die werden wir heute liefern. Wir bilden also zwei Teams und durchsuchen zwei Wohnungen, und wir stellen beide Wohnungen bis auf den äußersten Winkel auf den Kopf. Wir suchen nach allem, was mit Waffen und mit Drogen zu tun hat. Solange wir vor Ort sind, wird jede Person gründlichst untersucht, die entweder ins Haus rein möchte oder aus dem Haus raus. Zu klingeln brauchen wir nicht, wir haben die Schlüssel von den Lauterbachs. Abmarsch!«

Mit vier Kriminalbeamten und acht Beamten von der Schutzpolizei in insgesamt sechs Autos machte man sich auf den Weg nach Bubenhausen in die Langentalstraße.
Unterwegs fragte Schrader Feisel: »Wie haben Sie rausgefunden, dass der Ex von Frau Mohr…?«
»Steht im Computer.«
Schrader sah aus dem Fenster. Sie wirkte enttäuscht und gedemütigt zugleich.
»Ich nehme Ihnen das nicht übel, Frau Kollegin. Sie haben im Moment anderes im Kopf.«
»Ich bin wieder voll im Dienst. Okay?«
»Hallooo! Ist doch alles wieder im Lot. Wir fahren da jetzt gemeinsam hin und klären den Fall. Und zwar gemeinsam. Hm?«
»Und das kurz vor meiner Prüfung.?«
»Sie wollen wirklich? Ich meine…«
Schrader sah zu ihm hinüber. »Ich hab` zu lange dafür gebüffelt. Mit dem Unfall hat niemand rechnen können. Ich werd`s probieren. Wie sind Sie überhaupt auf Mohr gekommen?«
»Frau Kollegin, Sie sollten sich einfach mal mit den Menschen hier im Ort unterhalten.«
»Und Sie haben sich hier unterhalten?«
»Ei jo, isch kann sogar schun e bisje pälzisch.«
Schrader lachte laut auf. »Fast so gut wie ich Kölsch.«
Kurz darauf erreichten sie den Tatort. Im Auto sagte er noch: >>Frau Kollegin, dann zeigen Sie mal, was Sie gelernt haben. Sie gehen mit unserem Kollegen und vier Kollegen von der SchuPo nach oben zu Mohr. Wir logischerweise in die Wohnung der Lauterbachs.<

Feisel wartete, bis Schrader und die Kollegen mit der Hand am Holster vor Mohrs` Wohnungstür standen und sturm klingelten. Dann schloss er die Wohnung der Lauterbachs auf.

Von oben war zu hören, wie eine Tür geknallt wurde. Dann rief Schrader: >>Sofort Aufmachen! Polizei!<< und sie klingelte erneut sturm. Als niemand reagierte, wurde die Tür eingetreten.
»Hinlegen! Auf den Boden! Sofort! Hinlegen! Hände in den Nacken!«
Vom Verdächtigten war nichts zu hören. Einen Moment führten zwei Beamte der Schutzpolizei den Verdächtigten in Handschellen ab. Er war ca. 1,85m groß, trainiert, sonnenbankgebräunt, nicht tätowiert, und wies ein gepflegtes Äußeres vor.
Kurz darauf klingelte Feisels` Handy.
»Der Winkel passt.«, sagte Schrader. »Wir durchsuchen jetzt die Wohnung.«
Feisel stimmte zu und legte auf. Nachdem er im Zimmer zur Hausvorderseite ans Fenster getreten war, die Straße befand sich rechts des Hauses nach oben, bemerkte er unten zwei Frauen. Eine sprach gerade und zeigte nach oben. Dies bemerkte auch ein Beamter, der sich zu Feisel gesellte.
»Herr Hauptkommissar, die Presse ist auch da.«
»Keine Chance. Es geht niemand rein und raus.«

»Wir haben was!«, rief Schrader von oben.
»Alles mitnehmen. Auch Bürsten und ein Glas oder alles, woraus wir DNA gewinnen können.«, rief Feisel.
»Okay.«

Derweil durchsuchten er und die anderen die Wohnung der Lauterbachs.
»Auch hier: Alles mitnehmen, was uns Beweise liefert.«
Die Kollegen stimmten zu und durchforsteten zunächst Janas` Zimmer.
»Chef…!«, rief ein Beamter der Schutzpolizei. Feisel ging zu ihm in. Der Schutzbeamte zeigte Feisel jede Menge Reizwäsche im Schrank.
Er kommentierte: »Die Pornosammlung interessiert uns nicht. Was hier gelaufen ist, wissen wir auch so. Drogen verstecken viele in Behältnissen. Schauen Sie auch in der Matratze nach.«
Der Beamte nickte.

Auch von oben war Gepolter zu hören. Feisel ging zu den Kollegen nach oben.
»Bisher nichts. Wie sieht`s bei euch aus?«
Plötzlich war aus der Nachbarwohnung ein lautes „Hilfe“ vernehmbar.
Feisel fragte nach: »Hallo? Kripo Zweibrücken. Machen Sie uns bitte die Tür auf.«
Dann wurde die Tür einen Spalt breit geöffnet, sodass man gerade mal die Hand senkrecht hätte hindurchstecken können. Die Tür war von innen mit einer kleinen Kette mit dem Türrahmen verbunden. Dann sah man ein Auge, und schneeweiße Haare. Die Person war sehr klein und sehr dünn, also offensichtlich eine Seniorin.
»Wer sind Sie?« Die alte Dame war total eingeschüchtert.
»Feisel mein Name. Kriminalpolizei.«
»Ist er weg?«
Er zeigte ihr seine Handinnenfläche und redete ruhig auf sie ein. »Hören Sie…, äh…, Frau Breuer (ihr Name stand an der Klingel), ich zeige Ihnen meinen Dienstausweis.«
Die Dame nahm den Dienstausweis entgegen und schloss hastig die Tür von innen.
Feisel reagierte verdutzt. »Frau Breuer?«
Dann öffnete Frau Breuer die Wohnungstür hastig, war mit einem Schritt bei Feisel, umarmte ihn und begann zu weinen. Er nahm es gelassen, sie wirkte aufgelöst.
»Vielen, vielen Dank. Gott sei Dank. Ich habe seit Tagen nicht geschlafen vor Angst. Er war bei mir in der Wohnung.«
Feisel zeigte hinter sich in Richtung Wohnung Mohr. »Wer? `Er`?«
»Na ja, einer von beiden.«
Er legte ihr die Hand auf den Rücken, wie umarmte ihn noch immer. Er dachte aber auch an Schrader, sie würde sowieso als Nebenklägerin auftreten, das sollte aber noch nicht jetzt sein. Er schaute sich nochmal um und bemerkte, dass Schrader gerade nicht anwesend war.
»Frau Breuer. Ich schlage vor, Sie laden mich zum Kaffee ein und dabei erzählen Sie mir, was sie gesehen haben.«
Sie stimmte schluchzend zu. Feisel ließ in der Wohnung Mohr verlauten, dass er sich im Gespräch befindet und nicht gestört werden möchte.

»Hier am Fenster hat er gestanden.« Frau Breuer zeigte noch immer um Fassung ringend auf ihr Schlafzimmerfenster.
»Setzen Sie sich erst mal, Frau Breuer. Soll ich Ihnen beim Kaffeekochen helfen?«
»Ja, gerne.«
Er setzte Kaffee auf. Ihn interessierte, inwiefern die nun eben gewonnene Hauptzeugin vernehmungsfähig ist, auch für die Zukunft. Möglicherweise würde sie sich zu sehr aufregen.
»Nehmen Sie Medikamente, Frau Breuer?«
»Nein. Das ist sehr nett, dass sie fragen. Ich bin geistig noch voll da. Nur der Körper will im Alter nicht mehr so. Damals mit den Russen habe ich ganz andere Sachen erlebt. Aber das ist man nach so vielen Jahren nicht mehr gewohnt, auch wenn es sich ins Gehirn eingebrannt hat. Man verdrängt so vieles. Aber in dem Moment, als der da stand und geschossen hat, war alles wieder da.«
»Sie haben mein vollstes Verständnis, ich bin selber ein Kind nach einer Kriegsgeneration. Meinen Sie denn, dass Sie das Ganze hier nochmal zusammenbekommen, um das protokollieren zu können?«
»Dauert einen Moment, ich bin so erleichtert. Als ich Sie vorhin gesehen habe, ist alles von mir herab gefallen. Das sind jetzt Freudentränen.«
Dann erzählen Sie, wenn Sie möchten, Frau Breuer. Und bitte keinen Stress. Der Mann nebenan ist verhaftet.«
»Ich hörte da draußen im Treppenhaus jemanden laut rufen. Währenddessen war ich im Wohnzimmer und habe fern gesehen. Erst dachte ich, ich hätte mich vertan.«
»Haben Sie verstanden, was da gerufen wurde?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Vielleicht sowas wie `Bullen`?«
»Ja, das klingt sehr ähnlich! Dann bin ich an die Tür, um nachzusehen. In dem Moment, als ich die Tür aufmachte, drückte ein Mann, der viel größer war als ich, die Tür auf.«
»Haben Sie ihn erkannt?«
»Nein, er war maskiert und komplett schwarz gekleidet. Von der Körpergröße her könnte es der da drüben gewesen sein.«
»Nachdem er die Tür aufgedrückt hat. Was war dann?«
»Er hat seinen Finger auf meinen Mund gelegt und leise gezischt, und dabei einen Revolver in der Höhe seines Gesichts gehalten.«
»Mit bloßen Händen oder hatte er Handschuhe an?«
»Weiß ich nicht mehr.«
»Wissen Sie noch, welche Art von Kleidung er getragen hat?«
»Alles in schwarz. Auf Details habe ich nicht geachtet.«
»Wie haben Sie dann reagiert?«
»Ich glaube, ich habe meine Hände vor mein Gesicht gehalten, ich weiß nur noch, dass ich plötzlich schreckliche Angst hatte. Ich war aber verwundert, dass er an mir vorbei ging, dass er mich gar nicht meinte. Was soll hier auch zu holen sein, ich habe nur eine kleine Witwen-Rente. Jedenfalls war ich neugierig und verdutzt zugleich, hab` mich ihm in Richtung Schlafzimmer hinterhergeschlichen. Dann habe ich gesehen, wie er das Fenster aufgemacht und geschossen hat. Ich wusste gar nicht, auf wen oder auf was. Er hat einfach ein paar Mal nach drüben in Richtung des anderen Hauses geschossen.«
»Sind Sie dann wieder zurück in ihren Flur?«
»Ich bin im Wohnzimmer vor der Schlafzimmertür stehen geblieben. Er hat wieder den Finger auf den Mund gelegt und leise gezischt. Dann ist er raus und hat die Wohnungstür hinter sich zugezogen.«
»Können Sie sich an seine Augen erinnern?«
»Kann sein, dass ich die gesehen habe. Erinnern kann ich mich jedenfalls nicht mehr. Aber das laute Knallen habe ich jetzt noch im Ohr.«
»Hat es Sie gar nicht interessiert, auf wen oder was er geschossen hat?«
»Sie sind gut. Auf Kaninchen bestimmt nicht. Schon gar nicht in schwarzer Kleidung. Als der raus ging, hörte ich schon von weitem die Sirenen, das Fenster war ja noch offen. Des halb hatte ich gar nicht erst das Bedürfnis, nachzusehen.«
»Wurde aus der Wohnung nebenan auch geschossen?«
»Nein. Nicht, dass ich wüsste. Der war doch hier bei mir. Jedenfalls glaube ich, dass er das war. Er hat bestimmt fünf oder sechs Mal geschossen.«
»Können Sie sich denn zufällig an eine Frau erinnern (er meinte auch Sabine Mohr)?«
Sie überlegte kurz. &raquoNein. Da drüben im anderen Haus muss wohl was passiert sein, ich habe die ganzen Autos gesehen und davon gehört. Ansonsten wüsste ich nur generell von dem Mädchen da unten.«
»War sie auch dabei oder im Hausflur?«
»Nein. Ich sagte doch: Generell, als Nachbarn. Das arme Mädchen hat ja auch so viel gelitten.«
»Wie fit fühlen Sie sich jetzt?«
»Danke, schon besser. Es tut so gut, endlich mit jemandem darüber zu reden.«
»Den Kaffee haben Sie übrigens sehr lecker gekocht.«
Frau Breuer lachte.

Im selben Moment rief Schrader ihn an. »Interessante Funde, Herr Kollege: Zwei Ski-Masken, zwei Paar schwarze Lederhandschuhe, zwei schwarze Sonnenbrillen, zwei verschiedene Paar Turnschuhe, eine Pistole und einen Revolver.«
»Ich komme gleich hoch.«

»Untersuchen Sie auch den Speicher?«, fragte Frau Breuer verwundert.
»Nein. Alles gut.«, lächelte Feisel. »A propos Untersuchungen: Wir können das rechtlich nicht einfach als Vier-Augen-Gespräch abheften…«
»Ja, ich weiß, Sie brauchen Beweise.«
»Genau. Ehrlich gesagt würde ich Ihnen jetzt gleich die Kollegen vorbeischicken, die sich um Fingerabdrücke und sowas kümmern.«
»Kein Problem, ich habe in der Zwischenzeit nichts gesäubert. Dann kann ich ja später wenigstens die Fenster putzen.«
»Oh, fleißige Biene. Und das in dem Alter.«
Frau Breuer fühlte sich geschmeichelt.
»Und Sie sind der Meinung, dass Sie hier alleine fertig werden, ich meine gesundheitlich? Können Sie denn heute Abend schlafen?«
»Ich werde jetzt bestimmt wieder gut schlafen können.«
»Darf ich mir vielleicht noch ihre Ausweisdaten notieren?«
»Aber ja. Moment.«
»Ihr Ausweis verriet, dass die Frau Maria Breuer hieß und 86 Jahre alt war. Er fotografierte den Ausweis einfach beidseitig.«
»Frau Breuer, Sie haben uns sehr geholfen. Ich schicke Ihnen heute Nachmittag die Kollegen von der Spurensicherung. Darf ich Sie mit auf die Wache nehmen, damit wir protokollieren können?«
»Entschuldigung, kann das bis morgen warten? Wenn Ihre Kollegen dagewesen sind, möchte ich gerne ein wenig schlafen.«
Feisel hätte eigentlich lieber gestern alles aufgenommen, die Verdächtigten müssen nach maximal 48 Stunden wieder freigelassen werden.
»Aber bitte morgen. Wir holen Sie sehr gerne morgen früh ab.«
»Ja, das dürfen Sie, mich abholen. Das ist sehr nett.«
»Also dann: bis morgen früh. Und danke für den Kaffee.«
»Ja, danke ihnen auch. Und Ihnen alles Gute.«
Da sich Feisel im Geiste bereits nebenan in der Wohnung bei Tobias Mohr befand, hatte er nur beiläufig mitbekommen, was sie gesagt hatte, es aber wohl schnell wieder verdrängt.«

»Haben Sie was Interessantes gefunden?laquo;, fragte Schrader.
Er lachte verlegen. »Eine ganze Menge.«
»Wir auch. Schauen Sie mal.« Sie zeigte ihm die Pistole, den Revolver, die dazugehörige Munition, und die Ski-Masken, die Munition, alles bereits eingetütet. »Dann haben wir eine Machete, ein Butterfly-Messer, ein Hanfseil, K.O.-Tropfen, und zwei Kilo Cannabis und ein halbes Kilo Kokain gefunden.«
»Wahnsinn. Mit dem Zeugs haben die ihre Opfer high gemacht, und mit dem Zeugs eingeschüchtert und nach den Sex-Spielchen getötet. Ach, da fällt mir ein: Ich muss mal telefonieren.«
Zum Telefonieren ging er unten vor die Tür, er verständigte die Spurensicherung. Schrader sollte von dem Gespräch mit Frau Breuer noch nichts wissen.

»Er ging nicht wieder nach ganz oben in die Wohnung Mohr, sondern in die Wohnung Lauterbach.
»Liebe Kollegen. Wie sieht`s aus? Was haben Sie gefunden?«
»Jede Menge Drogen: Gut und gerne 50 Gramm Cannabis, etwa 20 Gramm Kokain und K.O.-Tropfen. Sonst nichts.«
»Waffen?«
»Keine.«
»Hab` ich mir fast gedacht.«
Dann ging Feisel nach draußen in den Hausflur und rief: >>Alles zusammenpacken, Abmarsch!<< Die Kollegen folgten mit Sack und Pack.
Unterwegs fragte Schrader aif Feisel: »Waren Sie zum Kaffeekränzchen verabredet?«
»Das erzähle ich Ihnen später.«
Schrader schwieg ein paar Minuten lang, Sie befürchtete etwas, ihr Blick sah angestrengt aus.
»Hat es was mit den Ski-Masken und den Waffen zu tun?«
»Frau Kollegin. Wir besprechen nachher sowieso alles gemeinsam.«
Kurz vor Einbiegung in die Landauer Straße, wo sich die Wache befand, fuhren die Kollegen der Spurensicherung an Ihnen vorbei. Feisel winkte ihnen lächelnd zu, er freute sich, was Schrader bemerkte.

Das muss alles in die kriminaltechnische Abteilung (KTU). Es eilt. Wenn alles abgegeben ist, machen wir Mittag. Danach haben wir zu tun, eventuell mit Nachtschicht., rief er nach Ankunft in der Dienststelle.«
Ein Raunen ging durch den Raum.
»Sie haben mir was mitzuteilen. Wenn es dienstlich ist, dann erst recht.«, sprach Schrader ihn unter vier Augen an.
»Frau Kollegin…« Erst seufzte er, dann lächelte er verlegen. »Sie haben Recht. Darf ich Sie zu einer Pizza einladen? Ich möchte nicht, dass Sie es vor allen Kollegen erfahren.«
»Was denn so wichtig?! Bin ich schwanger?«
»Im Ernst: Ich fände es besser, wenn wir uns alle erst mal stärken. Bitte.«
»Ich lade Sie zur Pizza ein, wenn Sie mir endlich verraten..«
Sie wurden vom Vorgesetzten Stoll unterbrochen.
»Entschuldigung für die Störung. Waren Sie nicht eben in der Langentalstraße?«
Ein zweistimmiges »Ja.« kam zurück.
»Die SpuSi auch. Die standen zunächst bei Frau Breuer vor verschlossener Tür.«
»Vielleicht ist sie schnell einkaufen gegangen.«, regte Feisel an.
»Nee, leider nicht. Wir mussten die Tür aufmachen lassen. Die Spuren haben wir noch entnehmen können, während Frau Breuer auf dem Sessel friedlich entgeschlafen ist.« Dann verließ Stoll das Büro wieder.
Feisel überlegte kurz. »Ach… Sie war zuerst total aufgelöst und dann erleichtert, und zum Schluss hat sie mir alles Gute gewünscht. Da musste die arme Frau kurz vor ihrem Ableben noch auf solch erschreckende Weise dem Tod begegnen.«
»Sehen Sie…«, begann Schrader ».., so überbringt man… Moment, wer ist Frau Breuer?«
»Sehen Sie, Frau Kollegin, genau das wollte ich Ihnen schonender beibringen. Sie hat offenbar den zweiten Schützen gesehen. Es ist Mohr. Uns fehlen nur noch die Beweise.«
»Mohr und Lauterbach?« Schrader drehte den Kopf weg in Richtung Fenster und verzog ihr Gesicht.
»Sie hatten Recht mit ihrer Aussage: Es waren zwei Schützen. Ganz offensichtlich, aber bis jetzt ohne Beweise, Mohr und Lauterbach. ja. Ich glaube, Sie brauchen jetzt ein paar Minuten für sich. Sie finden mich in der Kantine.«
Er legte beim Rausgehen für einen Moment seine Hand auf ihre Schulter.

Schrader betrat die Kantine, als etwa die Hälfte der Pause vorbei war. Sie aß nur einen Snack. Nach der Mittagspause war führte Feisel die Teambesprechung an.
»Wie weit sind die kriminalistischen Auswertungen?«
»Liegen noch nicht vor.laquo;, sagte einer der Spurensicherung.
»Na dann: Bitte gleich nach der Besprechung. Uns steht Arbeit bevor. Lauterbach muss als erster vernommen werden. Ohne kriminalistische Beweise muss er spätestens morgen entlassen werden.«
»Wir haben die Drogen.«
»Das reicht maximal für eine Anzeige, und mit der Menge auch für eine Verurteilung. Wir brauchen Beweise für die Verbindung zwischen Michael Lauterbach und Tobias Mohr. Es muss geklärt werden, warum Mohr und Lauterbach aus zwei verschiedenen Wohnungen geschossen haben, und warum Mohr seine Ex-Frau umgebracht hat oder jemand anderes. Auch Jana Lauterbach könnte ohne Beweise als Schützin infrage kommen. Eine der Spermaspuren stammt von Michael Lauterbach, es gibt aber mindestens zwei. Außerdem: hatte auch Michael Lauterbach zu Frau Mohr eine persönliche Bindung? Es ist auch zu klären, ob gegen das Prostitutionsgesetz verstoßen wurde – möglicherweise wurden Frau Mohr und Jana Lauterbach als Prostituierte missbraucht. Frau Lauterbach, der Mutter der beiden, habe ich auch eine Ladung zur Vernehmung geschickt, es kann nicht sein, dass zwei Minderjährige in einer anderen Wohnung leben als deren Betreuung.«
»Michael Lauterbach ist 25.«, rief einer dazwischen.
»Sind Sie sicher?«
»So steht`s im Ausweis.«
»Nochmal die Frage: Sind Sie sicher? Tot ist man, wenn ein Arzt den Tod feststellt. Behindert ist man, wenn ein Arzt die Behinderung diagnostiziert. Ist das nicht der Fall, ist man rechtlich nicht behindert, auch wenn äußerliche Merkmale einer Behinderung vorliegen. Seit Jahrhunderten hat es umgekehrte Fälle gegeben, manche waren in einer Nervenheilanstalt untergebracht, es wurde also eine Erkrankung diagnostiziert, obwohl menschliche Züge vorhanden waren.«
»Sie meinen, Mohr hat Lauterbach benutzt?«, regte Schrader an.
»Davon gehe ich aus, Frau Kollegin. Nur beweisen müssen wir es noch. Ich will jedes Ergebnis aller kriminalistischen Untersuchungen umgehend vorliegen haben. Viel Erfolg.«

Während alle aufbrachen, bestellte er Schrader zu sich ins Büro.
»Ehrlich gesagt halte ich es – aus moralischen Gründen – für sinnvoll, wenn Sie sich ausschließlich um die junge Frau Lauterbach kümmern.«
Schrader überlegte kurz. »Ich weiß, was sie meinen, und ich weiß das auch zu schätzen. Nur muss ich später in der Verhandlung sowieso aussagen.«
»Eben. In der Verhandlung sowieso. Nur im Moment möchte ich Ihnen keine Gefühlsschwankungen zumuten. Ich meine, morgen ist die Beerdigung und noch in dieser Woche findet ihre Prüfung statt.«
Kurze Gesprächspause.
»Ich schlage vor, dass Sie Jana und ihre Mutter vernehmen. Wenn Sie möchten, bin ich dabei. Um Mohr und um Lauterbach kümmere ich mich, und Sie entscheiden spontan, ob Sie dabei sein möchten.«
Schrader überlegte kurz und stimmte dann zu.

»Im selben Moment, in dem Jana Lauterbach von Schrader ins eine Vernehmungszimmer geführt wurde, holten zwei andere Kollegen Michael Lauterbach ins andere Vernehmungszimmer.
»Loss mei Schweschder in Ruh`, du Fotz`!«, rief Lauterbach zu Schrader. Feisel sah Schrader an und runzelte die Stirn. Sie tat so, als hätte sie es nicht gehört.
Das Vernehmungszimmer war schallgeschützt. Es hatte zwei venezianische Spiegel, so konnte man von außen reinsehen, von innen waren die Fenster allerdings verspiegelt. Im Raum standen ein Tisch mit je 2 Stühlen, außerdem ein Stuhl an der Wand. Auf dem Tisch stand ein Mikrofon. Das Licht war gedämmt. Stenzel nahm auf dem Stuhl an der Wand Platz, er kreuzte Arme und Beine, Schrader und Jana Lauterbach am Tisch. Schrader saß offen mit den Händen auf dem Tisch, Jana kreuzte ebenfalls Arme und Beine, außerdem wippte sie nervös mit einem Bein, ihren Oberkörper hatte sie nach vorne gebeugt und so ihre Unterarme auf ihren Beinen abgestützt. Schrader schaltete das Mikrofon an und eröffnete die Vernehmung.

»Zweite Vernehmung mit Jana Lauterbach. Die Vernehmung führt KOKin Nicole Schrader, anwesend ist auch KHK Mathias Feisel, er führt die Ermittlungen an.«
Dann lehnte sie sich zurück, atmete durch und wartete eine Sekunde lang.
»Frau Lauterbach. In der ersten Vernehmung haben Sie mir erzählt, dass Sie Frau Sabine Mohr kannten. Inwiefern kannten Sie sich?«
»Sie war meine Sis.«
»Also eine Art schwesterliches Verhältnis.«
»Ja.«
»Ich muss Sie etwas Intimes fragen: Beruhte der Kontakt zu Frau Mohr auf einer Bekanntschaft, auf persönlicher Ebene oder hatten Sie auch Sex mit ihr?«
Jana Lauterbach behielt ihr Gesicht in Richtung Schrader, schielte aber in Richtung Feisel. Man konnte ihr ihre Verlegenheit ansehen.
»War es freiwillig?«
Wieder die gleiche Reaktion. Feisel hörte und sah aufmerksam mit. »Frau Lauterbach, ich bin nicht mit privaten Absichten hier. Sie dürfen frei sprechen.«
Jana sprang auf und fasste sich an den unteren Saum ihres Tops. Feisel sprang ihr entgegen und redete ihr ruhig zu. »Das, Frau Lauterbach, brauchen Sie nicht mehr zu tun. Sie brauchen uns nichts zu zeigen, das ist jetzt vorbei. Frau Schrader, ich finde, Sie sollten alleine weiter machen.«
Schrader nickte. Jana Lauterbach wusste selbstverständlich nichts von einem venezianischen Spiegel.
»War es freiwillig?«, fragte Schrader erneut, nachdem Feisel den Raum verlassen hatte.
»Nein.« Sie begann zu weinen.
Schrader wartete, bis sich Jana beruhigt hatte.
»Der Herr Mohr wollte das so.«
»Der Herr Mohr?«
»a. Ich und mein Bruder mussten immer `Herr Mohr` zu dem sagen.«
»Von Anfang an?«
»Ja. Ich hab` den kennengelernt, als ich noch jünger war.«
»Wie alt waren Sie zu diesem Zeitpunkt?«
»Vierzehn. Und wenn er dabei war, mussten wir Sabine immer mit `Frau Mohr` ansprechen. Wenn er nicht dabei war, haben wir uns heimlich geduzt. Aber wenn er dabei war…«
»Wie haben Sie die beiden denn kennengelernt?«
»Durch mein Bruder. Sabine kannte ich früher nur vom Sehen, sie wohnte ja über uns. Irgendwann ist der Mohr zu ihr gezogen. Wenig später haben die beiden geheiratet. Und dann hatte mein Bruder irgendwann mit dem zu tun. Irgendwann immer öfter.«
»Ist Ihnen, bevor Sie die beiden kennengelernt haben, irgendwann etwas Besonderes aufgefallen? Vielleicht häufiger Streit?«
»Ja. Die beiden haben immer öfter gestritten.«
»Haben Sie aus den Streits heraushören können, in welchem Ton die beiden miteinander geredet haben?«
»Na, laut halt.«
»Ich meine eher das Kommunikationsniveau. Aggressiv, beleidigend, und sowas.«
»Nee.«
»Waren denn beide im Streit laut?«
»Sie eher. Er nicht so.«
»Eher so, wie ihr Bruder spricht?«
»Nee. Anders.«
»Haben Sie vielleicht raushören können, um was es bei deren Streits ging?«
»Sie hat oft gesagt, er soll die Finger von ihr lassen.«

Kurze Pause.

»Wie war das Verhältnis zu Ihrem Bruder? Ich meine, war Ihr Bruder vor dem Kennenlernen von Herrn Mohr zu Ihnen anders?«
»Ja. Wir kamen voll gut miteinander aus. Deswegen hat unsere Mutter uns auch zu zweit in einer Wohnung wohnen lassen und sie zwei Blocks weiter. Aber unsere Mutter ist die Mieterin von beiden Wohnungen.«
»Haben Sie und Ihr Bruder einander geliebt?«
»Klar.«
»Zwischenmenschlich? Oder auch körperlich?«
»Bevor der Mohr bei uns im Haus eingezogen war, war die Beziehung zu meinem Bruder nur menschlich. Später fing mein Bruder an, mich im Bad zu bespannen und zu filmen und mir seinen Steifen gezeigt. Er hat gesagt, er würde die Bilder und Videos ins Netz stellen, wenn ich nicht tue, was er sagt.«
»Und? Haben Sie?«
»Anfangs nicht. Aber dann fing er auch an, mich zu schlagen, wurde mir gegenüber immer öfter aggressiv.«
»Warum haben Sie das Ihrer Mutter nicht erzählt?«
»Hab` ich doch.«
»Und dann?«
»Dann hat sie ihn darauf angesprochen, und er wurde mit der Zeit immer aufdringlicher.«
»Hat er sie angefasst?«
»a.«
»Wie denn?«
»Er hat mir in die Brust gekniffen, mich `Bitch` genannt. Sowas halt«
»Hat er sie auch mal versucht, im Schlaf zu berühren?«
»Das weiß ich doch nicht. Wenn man schläft, dann schläft man.«
»Sind Sie nie irgendwann mal wach geworden, während er Sie im Schlaf berührt hat?«

Wieder kurze Pause.

»Hat sich auch Tobias Mohr Ihnen genähert?«
»Persönlich oder…«
»Erzählen Sie`s mir.«
»Nach ein paar Monaten, nachdem mein Bruder ihn kennengelernt hat.«
»War ihr Bruder dabei?«
»>Nee.«
»Wo war der?«
»Der war oben bei Sabine.«
»Zum gleichen Zeitpunkt?«
»Ja.«
»Und wie…?«
»Der Mohr hat zuerst gesagt, wie hübsch ich bin, und dass er der Meinung ist, dass ich für einen anderen viel zu schade bin. Irgendwann hat er aber gesagt, dass ich mich nicht wundern muss, dass ich keinen Freund habe, weil ich so hässlich bin.«
»Hat ihr Bruder davon mitbekommen?«
»Wenn er gesagt hat, dass ich hässlich bin, war mein Bruder immer dabei.«
»Verstehe… Haben Sie mitbekommen, ob Herr Mohr und seine Frau da schon Streitereien hatten?«
»Nee, ich glaube, das war noch davor.«
»Wenn Herr Mohr sich negativ zu Ihrem Äußeren geäußert hat…, ich möchte das nicht so wiederholen…, wie hat Ihr Bruder dann reagiert?«
»Der hat nix gemacht. Manchmal hat er dabei gegrinst.«
»Hatte er dabei rote Augen?«
»Ja. Die kiffen doch beide und nehmen Koks.«
»Haben die beiden das auch gemacht, während Sie dabei waren?«
»Nee.«
»Sie wussten also, dass beide Drogen nehmen. Warum haben Sie das nie gemeldet?«
»Die hätten mich doch…« Jana Lauterbach wurde von einem Weinkrampf unterbrochen.

Einen Moment später.

»Hat Tobias Mohr Sie jemals geschlagen?«
Jana legte weinend ihre Hände ins Gesicht und nickte.
»Okay. Das reicht für heute. Sie werden abgeholt.«
Ein Beamter der Schutzpolizei betrat den Raum und führte Jana Lauterbach nach draußen.

Kurz darauf betrat Feisel den Verhandlungsraum.
»Drecksau.«, bemerkte Schrader laut.
Feisel war bewusst, dass sie nicht ihn meinte, sondern Mohr. »Gute Arbeit, Frau Kollegin.«
»Ich hab` grad Kopfkino vom allerfeinsten.«
»Lassen Sie uns einen Kaffee trinken gehen. Ich kümmere mich nachher um Michael Lauterbach.« Schrader nickte zustimmend.

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Kapitel 7

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