Die befohlene Freiheit des Otto Mühl

Oder: Wie Otto Mühl Kunst und Menschen für den Missbrauch missbrauchte,

Der 8. Mai 1945 gilt noch heute europaweit als Stunde Null, das besiegte Deutschland wurde unter den Besatzungsmächten Frankreich, England, den USA und Russland aufgeteilt. Es begannen die Nürnberger Prozesse, von den Alliierten angeführt. Im Jahr 1954 wurde die Bundeswehr gegründet, unter Aufsicht der Alliierten. Erst im Jahr 1955 holte der erste Bundeskanzler, Conrad Adenauer, die letzten deutschen Kriegsgefangenen nach Hause. Die Prozesse gegen die deutschen Kriegsverbrecher verliefen nur schleppend, dennoch wurden immer häufiger ehemalige Funktionäre der SS und der NS in der Bundeswehr und im Bundestag ausfindig gemacht.
Gerade einmal 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegsende zogen die USA in den nächsten Krieg, diesmal nach Vietnam. Auch diesmal glaubte man, in kurzer Zeit zum Ziel zu kommen. Doch erneut irrte man sich, man setzte gegen die Rebellen sogar Napalm ein.

Ebenfalls Mitte der 1960er Jahre begann in San Francisco die Hippie-Bewegung, man protestierte gemeinsam gegen den Krieg und für den Frieden. Viele in bunter Kleidung, manche ohne. Im häufiger zelebrierte man die Freie Liebe – immer häufiger auch nach Konsum von Cannabis und von LSD. Als im Jahr 1968 das Woodstock-Festival ausgerichtet wurde, um gegen den Krieg und für den Frieden zu demonstrieren, befand sich die Flower-Power-Bewegung bereits auf ihrem Höhepunkt.
Man gründete Lebensgemeinschaften mit Personen außerhalb des eigenen Familienstandes, sogenannte Kommunen. Die Zahl der Kommunen stieg, immer häufiger zeugten Kommunen-Mitglieder, sogenannte Kommunarden, Kinder. Auch im Jahr 1968 fanden in Frankreich und in Deutschland die Studentenbewegungen statt.
Der Sinn der meisten Kommunen bestand darin, sich gegen das System aufzubegehren, also galt Arbeit uncool, und über alles musste diskutiert werden, selbstverständlich demokratisch abstimmend, denn von Diktatur hatten viele ja die Nase voll, wobei das Spießbürgertum überwog.

Die Nase gestrichen voll von dem anti-autoritären Gerotze und Raus-Aus-Der-Diktatur hatte Otto Mühl. Im Jahr 1925 in Österreich geboren, wurde er im Alter von 18 Jahren in die Wehrmacht berufen, begann eine Offiziersausbildung und wurde Leutnant.
Nach dem Krieg studierte er Deutsch und Geschichte auf Lehramt, danach auch Kunstpädagogik an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Bereits während seines Studiums arbeitete er als Maltherapeut. Seine Art von Kunst nannte er “Materialaktionismus“.

„Manchmal [habe ich] das Bedürfnis, mich wie eine Sau im Schlamm zu wälzen. Mich provoziert jede glatte Fläche, sie mit intensivem Leben zu beschmutzen. Ich krieche auf allen Vieren darauf herum und schleudere den Dreck nach allen Richtungen.“

– Otto Mühl –

Im selben Jahr der Studentenproteste in Frankreich und in Deutschland mietete Otto Mühl in Wien eine Wohnung, um dort eine Kommune zu gründen. Ihren Lebensunterhalt bestritten diese Kommunarden durch Vertrieb selbstgedrehter Aktionsfilme und mittels Nachhilfestunden. Er lud immer wieder Künstler zu sich ein, bis sich ein fester Bestand von 10 Leuten eingefunden hatte, um eine Kommune zu gründen. Für seine Aktionen gebrauchte er metallische Gegenstände, Menschen und organische Stoffe, also auch Kot, Urin, und Blut. In all seinen Aktionen spielten Nacktheit und das Penetrieren von Körperöffnungen aller Art eine übergeordnete Rolle. Außerdem gebrauchte er für den Geschlechtsakt Ausdrücke wie “pudern“ und “ficken“ – für viele Kommunarden aller Altersklassen sicher ein Anreiz, sich dem nach außen hin spießigen Leben der damaligen Normalität zu entziehen. Seine Aktionsfilme hat er zum Beispiel “Wehrertüchtigung“, “Stille Nacht“ (darin wird auf dem Leib einer nackten Frau ein Schwein geschlachtet), “Der Geile Votan“ und “Scheißkerl“ genannt.

Im Jahr 1972 kaufte er den Friedrichshof, gelegen im Burgenland, 60 Kilometer südöstlich von Wien. Mühl und seine Kommunarden restaurierten das ehemalige Landgut des Erzherzogs Friedrichs. In Spitzenzeiten zählte die Otto-Mühl-Kommune etwa 600 Bewohner. Vom Friedrichshof aus baute Otto Mühl zusammen mit seiner zweiten Frau eine Struktur auf, zu der weitere Stadtkommunen in Wien, München, Genf, Paris, Hamburg, Bremen und Oslo hinzukamen. Den gesamten Komplex nannte Mühl Aktionsanalytische Organisation (AAO).

Prinzipien seiner Kommune:

– Freie Sexualität
– Gemeinschaftseigentum, also kein Privatbesitz
– und gemeinsames Kinderaufwachsen

Allerdings gab es noch mehr Aussteigerinnen und Aussteiger, denn viele kamen mit seinen Erziehungsmethoden nicht zurecht. Alle Kommunardinnen und Kommunarden mussten die Haare kurz geschoren haben, um möglichst keinem Schönheitsideal zu entsprechen und um möglichst gleich wie die anderen der Kommune auszusehen.
Auch Kinder waren Gemeinschaftseigentum. Es gab regelmäßig Diskussionen über das aktuelle Tagesgeschehen vor der versammelten Kommune. Kinder, die sich den Kommunenregeln widersetzt hatten, mussten sich vor versammelter Kommune am Mikrofon dafür rechtfertigen.

Der im Jahr 2009 veröffentlichte 81-minütige Dokumentarfilm “Die Kinder vom Friedrichshof“ von Juliane Großheim hat mehrere Preise gewonnen. Zu Beginn berichtet Otto Mühl einem Besucher von seiner Idee (Ideologie):

»Es sind 30 Frauen hier und jede will mindestens ein Kind haben. Ich werde also mit 80 von einer tollen Jugend umtummelt sein, und zwar von einer Jugend und von Kindern, die nicht geschädigt sind, die wirklich gesund sind, es wird eine reine Freude sein.«

Außerdem berichtet im Trailer die ehemalige Kommunardin und Mutter der Protagonistin im Film:

»Ja, die Nina ist von mir weggekommen als sie ein Jahr alt war und ich hab` sie dann mit zweieinhalb wiederbekommen. Aber ich wusste nicht, wie ich mich hätte wehren sollen, weil wenn ich mich gewehrt hätte, wäre es der Nina noch schlechter gegangen. Weil, das hieße ja, dass die Nina in der Struktur, die wir ja hatten, noch weiter nach unten gerutscht wäre. Weil, die Struktur der Mutter hat natürlich die Struktur des Kindes bestimmt. Das war auch ein Mittel, um einen stillzuhalten.«

Und nun der Trailer:

Trailer- Die Kinder vom Friedrichshof/ The children of the Commune from Sandra Merseburger on Vimeo.

Ebenfalls in diese Kommune hinein geboren ist der heutige Regisseur Paul-Julien Robert. Er drehte den Dokumentarfilm “Meine keine Familie“, welcher im Jahr 2013 veröffentlicht und ebenfalls mehrfach ausgezeichnet wurde. “Was bedeutet Familie, wenn man ohne Familie aufgewachsen ist?“, fragt er darin.
Im Vorspann werden Filmschnitte aus der Kommune eingeblendet, man sieht die Kommunardinnen mit ihren Kindern beim Spielen mit den Kindern. Er erzählt, dass er im Jahr 1979, drei Jahre nach Einzug seiner Mutter, in diese Kommune hinein geboren ist.

»Ich habe erwartet eine nette Kommune.«, berichtet seine Mutter.

Er selbst erzählt: »Als ich vier Jahre alt war, wurde meine Mutter zum Geld verdienen nach Zürich geschickt.«
Dazu seine Mutter; »Ich bin öfter zum Auto gegangen und hab` gesagt: ich will nicht in die Schweiz. Eines Tages musste ich weg und dich alleine lassen.«

Dann wird Otto Mühl gezeigt, wie er vor der Kommune zu den Kindern ins Mikro sagt: »Ich bestimme hier die Struktur.«

Am Ende des Trailers Paul-Julien Robert im Gespräch mit seiner Mutter:

»Dass er mit den Kindern machen konnte, was er wollte, und dass es keinen Widerstand gab, das ist aber extrem gefährlich.«
»Das ist extrem gefährlich.«, bestätigt sie.

Auch zu diesem Film der Trailer:

Wie die Mutter im ersten Trailer berichtet hat, war es kaum möglich, sich gegen das Diktat Otto Mühls zu wehren. Doch einige Ex-Mitglieder brachten den Mut dazu auf und stellten Strafantrag. Ab 1988 wurde die Kommune mit all ihren Stadtkommunen nach und nach aufgelöst. Im Jahr 1991 wurde Mühl wegen Sittlichkeitsdelikten, Unzucht mit Minderjährigen bis hin zur Vergewaltigung, Verstößen gegen das Suchtgiftgesetz und Zeugenbeeinflussung“ zu sieben Jahren Haft verurteilt, die er vollständig verbüßte.
Der Staatsanwalt argumentierte: »Die Jugendlichen waren nicht freiwillig dort, er hatte ihnen die Eltern genommen und damit die Möglichkeit, die Kommune zu verlassen.«

Auch die erwachsenen Mitglieder seiner Kommune hatte er dahin manipuliert, dass es sich für sie wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag am selben Tag angefühlt haben musste, mit ihm und seiner zweiten Frau Sex haben zu dürfen. Das konnte auch für deren Nachwuchs, der ja ebenfalls der Kommune gehörte, ebenfalls nur eine Ehre sein.

Die Geschichte eines Serientäters ist nicht erzählt, indem man zwei Erfahrungen berichtet, denn jeder Kriminalfall ist ein Individuum, ebenso wie jeder Täter und jede betroffene Person.
Um im Fall Otto Mühl ein vollständiges Täterprofil erstellen zu können, müsste man zum Beispiel wissen, wie er seine Kindheit, seine Jugend und sein Erwachsenenleben erlebt und wahrgenommen hat. Man darf dabei nicht als Außenstehende/r denken. Zum Beispiel ist es möglich, dass er als Kind selbst misshandelt worden ist, was ihn jedoch nicht besonders beeinträchtigt hat. Dafür könnte er etwas erlebt haben, was er selbst als Trigger wahrgenommen hatte.
Außenstehende, also Laien, reden oft vom angeblichen „Racheengel“ und vom angeblichen „Satansbraten“ – sowas ist Nonsens, eben nur Film.
Man müsste wissen, ob sich Otto Mühl zum Zeitpunkt der Gründung der Kommune darüber im Klaren war, dass er Menschen missbrauchen und Seelen schänden würde, und was ihn letztlich dazu bewegt hat, seine Macht auszuspielen und gegen andere zu verwenden. Dass er sich erst im Jahr 2010 brieflich entschuldigt hat, deutet darauf hin, dass er sich über die jahrelangen Schmerzen, die er anderen zugefügt hat, nicht im Klaren gewesen sein könnte. Sicher waren das Vertrauen und die Macht, die er von den Kommunarden erlangt hatte stimmulierend für ihn.
Und seine zweite Frau? Hat sie von den Missbräuchen innerhalb der Kommune gewusst? Immerhin hatten erwachsene Kommunarden auch mit ihr Sex. Otto Mühl hatte doch eine Tochter mit spastischer Lähmung. Was wäre gewesen, hätten sich Kommunarden an ihr vergangen? Und wieso ist sie in nur wenigen Filmen zu sehen?
Nach der Rückkehr seiner USA-Reise hatte seine erste Frau ihn verlassen. Das könnte einer seiner Trigger gewesen sein, denn nach dieser Trennung hatte er beschlossen, die Zweierbeziehung generell in seiner Kommune zu verbieten.

Seit November 2022 ist der Film „„Servus Papa, see you in hell“ in den Kinos. Darin wird die Geschichte der Jeanne Tremsal erzählt, die in Mühls Kommune aufgewachsen ist.

Quelle: Otto Mühl in Wikipedia.

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